Serie: Lebensfragen - Lebenshilfe
Unsere empfindlichen Stellen
Alle paar Wochen besuche ich mein Lieblings-Musikgeschäft, durchstöbere dessen Angebot und höre mir die eine oder andere Neuerscheinung an. Als ich bei einem Besuch Ende des vergangenen Jahres an der Kasse eine CD bezahlen wollte, legte ich diese kurz auf den leeren Plattenteller eines Vinyl-Plattenspielers. Die Verkäuferin, die mich in den letzten Jahren immer wieder mit interessanten Musiktipps versorgte, war über meine Ablageaktion gar nicht erfreut und meinte knapp: "Da dürfen Sie nichts drauflegen!". Nachdem ich meinen Einkauf beendet hatte, verließ ich das Geschäft und war total durcheinander.
Was war passiert? Der Hinweis der Verkäuferin hat bei mir eine empfindliche Stelle – im Fachjargon Schema genannt – getroffen. Ein Schema wird aus Lernerfahrungen gebildet, die bereits im Säuglingsalter beginnen. Da ich als Kind schon früh dazu angehalten wurde, anständig und brav durchs Leben zu gehen, habe ich über die Jahre hinweg ein Schema der Angepasstheit entwickelt nach dem Motto "Ich muss brav sein, darf nicht auffallen, um nicht negativ bewertet zu werden". Von daher war es auch kein Wunder, dass ich mich nach der Äußerung der Verkäuferin wie ein kleines Kind fühlte, das nicht brav war und wegen einer Verfehlung getadelt wurde.
Wir alle tragen unterschiedliche Schemas in uns, die unsere Wahrnehmung und Situationsbewertung einfärben. Das ist völlig normal. Typische Schemas sind das Leistungsschema ("Wenn ich keine perfekte Leistung erbringe, genüge ich nicht"), das Schema, nicht kompetent genug zu sein ("Ich kann nie etwas richtig machen"), das Schema der sozialen Bewertung ("Die anderen werden sicher meine Schwächen bemerken"), das Schema der Gerechtigkeit ("Das Leben meint es mit anderen besser als mit mir") und das Kontrollschema ("Ich muss alles in Griff haben"). Der Auslöser für die Aktivierung eines Schemas ist, wie eingangs bei meinem Erlebnis im Musikgeschäft beschrieben, oft völlig trivial: Jemand kritisiert einen, grüßt einen nicht, drängt sich in der Warteschlange vor einen, ist netter zu anderen als zu einem selbst.
Die Aktivierung eines Schemas führt in einer Partnerschaft besonders dann zu Problemen, wenn der Partner die Reaktion des Betroffenen nicht nachvollziehen kann, Unverständnis für dessen Reaktion zeigt, schnelle Ratschläge gibt oder zu schnell über die Sache hinweggeht. Nach Ansicht des Paarforschers Guy Bodenmann "ist das die Regel, denn wie soll jemand denn den gestressten Partner auch verstehen können, ohne die Vorgänge in dessen Innerem zu kennen?".
Über Schemas reden
Bodenmann und seine Mitarbeiterin Caroline Fux Brändli empfehlen daher, den Partnern in einer Liebesbeziehung immer wieder wechselseitig über ihre Schemas zu reden. "Nur wenn Sie Ihrem Partner klar mitteilen", so das Autorenduo, "was genau Sie an einer Sache wirklich stört, verletzt oder aufwühlt, hat dieser eine Chance, Sie zu verstehen und Ihnen dabei zu helfen. Tauchen Sie im Trichter des Erlebens nach unten, vorbei an den sachlichen Details (Schilderung der konkreten Auslösesituation etc.) und den oberflächlichen Emotionen (Nervosität, Gereiztheit, Frustration etc.), und stoßen Sie über die tiefer liegenden Emotionen (Minderwertigkeitsgefühle, Traurigkeit etc.) zu Ihrem Schema vor. Um Ihr persönliches Schema zu entdecken, brauchen Sie Zeit und die Bereitschaft, die einschlägigen Situationen kritisch zu betrachten. Das belastende Erlebnis nochmals sorgfältig durchzugehen und zu ergründen, warum genau es so schlimm war, fällt häufig leichter, wenn man dies mit dem Partner gemeinsam tun kann, wenn dieser nachfragt und einen zu verstehen versucht".
Übrigens: Vor einigen Tagen besuchte ich erneut mein Musikgeschäft und entschuldigte mich noch einmal bei der Verkäuferin für meine Unachtsamkeit. Sie lachte, holte eine Neueinspielung des wunderbaren Kol Nidrei, Op. 47, von Max Bruch aus dem Regal und meinte: "Die müssen Sie sich unbedingt einmal anhören."
Dr. Gerhard Nechwatal, Kirchenzeitung vom 13.März 2016
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