Serie: Lebensfragen - Lebenshilfe
Das Bedürfnis, verstanden zu werden
Im Zusammenleben mit unseren Mitmenschen haben wir immer das Bedürfnis, verstanden zu werden. Verstanden zu werden bedeutet nach Ansicht des Schriftstellers Honoré de Balzac – neben der Wonne, geliebt zu werden – das größte Glück. Christian Morgenstern zufolge sind wir „nicht da daheim, wo wir unseren Wohnsitz haben, sondern da, wo wir verstanden werden“. Und in der Tat: Es ist doch wunderbar, wenn wir von unserer Mutter, unserem Vater, unserer Schwester, unserem Bruder, unserer Frau, unserem Mann, unserer Tochter, unserem Sohn, unseren Arbeitskollegen verstanden werden. Als Autor dieser monatlich erscheinenden Kolumne freue ich mich ebenfalls, wenn ich von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, verstanden werde. Und dies, nachdem ich beim Schreiben der Texte selbst lange versucht habe, die Thematiken, über die ich schreibe, so gut wie möglich zu verstehen.
Im Gegensatz dazu fühlen wir uns schlecht, wenn wir von unseren Mitmenschen nicht verstanden werden. Der russische Dichter Leo Tolstoj schreibt: „Zu den qualvollsten Leiden gehört die Situation, wenn Menschen dich nicht verstehen und du dich mit deinen Gedanken hoffnungslos einsam fühlst“.
Auch in einer Liebesbeziehung geht es darum, dass wir uns von unserem Partner verstanden fühlen. So wünschen wir uns von ihm, dass er sich die Mühe macht, unsere Gefühle, unser Temperament und den Einfluss unserer Herkunftsfamilie auf uns zu verstehen. Wir wünschen uns von ihm Verständnis für unsere Unzulänglichkeiten, Vorlieben, Hobbys und für unsere Belastungen in Beruf und Haushalt. Ohne Zweifel erfordern diese Wünsche vom geliebten Partner ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Geduld, Rücksicht und Nachsicht.
Im Alltag einer Liebesbeziehung kommt es immer wieder zu Situationen, in denen Missverständnisse eine Rolle spielen. In seinem Buch „Der Kaufmann und der Papagei“ präsentiert der Psychotherapeut Nossrat Peseschkian folgende Geschichte, die auf humorvolle Weise ein jahrzehntelanges Missverständnis in einer Ehe beschreibt.
Ein Missverständnis
„Ein älteres Ehepaar feierte nach langen Ehejahren das Fest der goldenen Hochzeit. Beim gemeinsamen Frühstück dachte die Frau: ‚Seit fünfzig Jahren habe ich immer auf meinen Mann Rücksicht genommen und ihm immer das knusprige Oberteil des Brötchens gegeben. Heute will ich mir endlich diese Delikatesse selbst gönnen‘. Sie schmierte sich das Oberteil des Brötchens und gab das andere Teil ihrem Mann. Entgegen ihrer Erwartung war dieser hoch erfreut, küsste ihre Hand und sagte: ‚Mein Liebling, du bereitest mir die größte Freude des Tages. Über fünfzig Jahre habe ich das Brötchenunterteil nicht mehr gegessen, das ich vom Brötchen am allerliebsten mag. Ich dachte mir immer, du solltest es haben, weil es dir so gut schmeckt‘“. Wie so oft im Leben, ist es auch in der Ehe von Vorteil, wenn wir Geduld haben. Manchmal dauert es eben fünfzig Jahre, bis ein Missverständnis aufgeklärt wird.
Abschließend stelle ich Ihnen noch eine Aussage der weltbekannten Familientherapeutin Virginia Satir vor. Darin erweitert sie das eben angesprochene menschliche Bedürfnis, verstanden zu werden, noch um die Bedürfnisse gesehen, gehört und berührt zu werden. Satir weist auch darauf hin, dass wir uns stets bemühen sollen, unsere Mitmenschen so gut wie möglich zu verstehen. Sie schreibt: „Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt“.
Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen, dass Sie von Ihren Mitmenschen weitest-gehend verstanden werden und dass es Ihnen gelingt, diesen wiederum das Geschenk Ihres Verstehens geben zu können.
Dr. Gerhard Nechwatal, Kirchenzeitung vom 2. Oktober 2016
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